Mommy - kinofenster.de (2024)

„Wir verändern uns nicht“, singt Céline Dion, Popstar und Ikone des frankophonen Kanadas. Es könnte ironisch gemeint sein, wenn Steve (Antoine-Olivier Pilon) sie neckisch als Nationalstolz bewirbt, damit die neue Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) in den Gesang einstimmt. Doch der 15-Jährige geht selbst inbrünstig mit, hat sich für das Lied sogar umgezogen und geschminkt. Seine Mutter Diane (Anne Dorval), kurz "Die", lässt sich auf das Spiel ein und bald auch die schüchterne Kyla. Sie singen von den Kostümen, die einen nicht verändern können, und dem Kind, das in jedem steckt. Das Chanson feiert Toleranz für die eigenen Grenzen. Die bewegliche Kamera im ungewöhnlichen quadratischen Bildformat verstärkt die Dynamik der Szene in der kleinen Küche. Es ist ein Moment der geteilten Freude, wie es sie in Mommy immer wieder gibt, der emotionale Ausbruch nach einem ruhigen Zwiegespräch der beiden Frauen. Der Film will an ihren Schicksalen teilhaben lassen, inszeniert Höhen und Tiefen dreier Leben mit physischen, psychischen und emotionalen Störungen.

Steve, der gewalttätige Teenager mit ADHS, ist das verbindende Element, aber auch der Vulkan, von dem der Film wie ein Seismograf ein jedes Beben aufzeichnet. Steves mitreißende Leidenschaft spiegelt die des Regisseurs Xavier Dolan, der große Gefühle sucht und sie ohne Angst vor Pathos in der Reizüberflutung findet. Dolan hat nicht nur selbst die extravaganten Kostüme gestaltet, sondern auch eigene Lieblingssongs für den Pop-Rock-Soundtrack ausgewählt. Beide erzählen von einer Jugend in den 1990er-Jahren. Céline Dions „On ne change pas“ stammt von 1998, ein anderes prominentes Stück, Andrea Bocellis Schnulze „Vivo per lei“, die Steve in einer Karaoke-Bar singt, aus dem Jahr 1995. Auch die Blazer mit Schulterpolstern und die glänzenden Schlaghosen erinnern an vergangene Moden. Dolan, der so souverän scheinbar Abgegriffenes integriert, ist gerade einmal 25 Jahre alt. Mit Mommy legt er bereits seinen fünften Spielfilm vor. Die Geschichte ist in einer nahen Zukunft angesiedelt, in der ein neu eingeführtes Gesetz Eltern die Möglichkeit gibt, ihr Sorgerecht in staatliche Obhut zu übergeben.


Dolan nimmt sein Sujet sehr ernst und gibt ihm gerade deshalb eine berauschende Leichtigkeit, ohne versöhnlich zu werden. Die Lebensumstände von Diane und Steve lassen das ohnehin kaum zu. Mutter und Sohn müssen selbst erst zusammenfinden. Nach dem Tod des Vaters hatte sie den hyperaktiven Jungen in ein Heim gesteckt, von dem er wegen Brandstiftung aber verwiesen wird. Sie nimmt ihn also wieder bei sich auf und hält den Kopf hoch, trotz aller Sorgen. In der bürgerlichen Vorstadtstraße fallen die beiden sofort auf: Sie aufreizend figurbetont gekleidet, er laut und jovial, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend. Die und Steve sind stets fehl am Platz. Dolan zeigt die Mutter als proletarische Kämpferin, die gelernt hat, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Ununterbrochen muss sie schwierige Entscheidungen treffen: den Sohn vor sich selbst schützen, Grenzen vermitteln und ihm gleichzeitig die Liebe geben, die er so vehement einfordert. Anne Dorval verleiht dieser Figur eine trotzige Kraft, die ihre latente Überforderung nie ganz verdeckt. Die schwer stotternde Nachbarin Kyla, eine beurlaubte Lehrerin, verhält sich dazu als Gegenstück: an der Oberfläche unsicher und still, mit einem verborgenen Schatz an Wissen und Tatendrang. Beide sind für das Kino selten facettenreiche Frauenfiguren, bei denen in jeder Bewegung ein prägendes Leben voller widersprüchlicher Erfahrungen mitschwingt.

Die Protagonisten in Mommy geraten wie von selbst in Konflikt mit Gesetzen, Regeln und Konventionen. Es ist, als fehle zwischen ihnen und den anderen ein Puffer oder ein Schmiermittel, das die Reibungspunkte verringert, weil es die Probleme relativiert oder aus der Welt schafft. Diane und Steve mangelt es schlicht und ergreifend an dem, was die westliche Welt im Innersten zusammenhält: Geld. Deshalb müssen sie für jede Herausforderung selbst einstehen, persönliche Gefallen ersuchen, ihren Charme spielen lassen – wie beim Anwalt, dem sie für seinen Rechtsbeistand einen schönen Abend zu bereiten versuchen. Etwas Abwechslung im Alltag verschafft den beiden Kyla, die den Jungen durch den Unterrichtsstoff bringen soll.


Mommy, Szene (© Weltkino)

Nüchtern betrachtet strukturieren Mommy solche Tauschgeschäfte. Allerdings ist der Modus, in dem der Film die Figuren walten lässt, ein völlig anderer. Ihre Triebkraft sind hochkochende Emotionen, die einen regelrechten Sog entfalten, weil sie sich konträr zueinander verhalten. Dolan kostet die Differenzen aus. Das mäandernde Drehbuch, das sich eine überraschend unausgeglichene Dramaturgie leistet, nimmt sich das zum Prinzip, lässt Traum und Wirklichkeit, Wut und Zuneigung, Hoffnung und Not im Feuerwerk der Gefühle aufeinanderprallen. Die Protagonisten wiederum, die in den engen Bildern dicht aneinander rücken, stehen im ständigen Widerstreit mit sich selbst, in ihrem Streben nach Veränderung.

Wichtiger Hinweis für Lehrende
Der Schluss von Mommy ist offen für Interpretationen. Regisseur Xavier Dolan spricht davon, dass Steve am Ende frei sei. Eine mögliche Deutung könnte lauten, dass Steve Suizid begeht.


Autor/in: Frédéric Jaeger, Filmkritiker und Chefredakteur von critic.de, 07.11.2014

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